
Nur ein kleines bisschen Mut – Gedanken zum Gedenken (an den Holocaust)
In der Schule habe ich die NS-Zeit gehasst. Acht Jahre lang ständig dasselbe Thema – im Geschichtsunterricht, aber auch im Deutsch-, Philosophie- und Religionsunterricht und überhaupt irgendwie überall. Ich habe nicht verstanden, warum wir immer wieder darüber reden mussten. Sicher, da war etwas ganz Schlimmes passiert und das sollte natürlich nicht vergessen werden. Aber es war mir zu viel, viel zu viel von einem Thema, das mich einfach nicht gepackt hat. Außerdem wurde mir gesagt, dass wir die Schuld tragen müssten – für etwas, das Generationen vor uns passiert war. Ich habe mich auch angegriffen gefühlt. Natürlich baut man da Widerstände und Mauern auf. Auch wenn es vielleicht nicht ganz richtig war.
Es hat Jahre gedauert, bis dieses Thema wirklich zu mir durchgedrungen ist. Als ich den Comic „Die Maus“ von Art Spiegelman gelesen habe. Denn auf einmal war ich dabei und konnte spüren, was passiert ist – zumindest einen Hauch davon. Ich sah die Lebensgeschichte eines Mannes vor meinen Augen ablaufen und während ich als stiller Beobachter dabeisaß, habe ich angefangen zu verstehen.
Diese erste Begegnung hat nicht plötzlich meine ganze Welt auf den Kopf gestellt – aber sie hat mich verändert, etwas in mir in Bewegung gebracht. In der Schule war da immer dieses Gefühl, belehrt zu werden. Es gibt zahlreiche kluge Köpfe, die über diese schreckliche Zeit geschrieben haben, es gibt dutzende ZDF-Dokumentationen, die sich alle gleich anfühlen, und es gibt haufenweise Zahlen, die uns einen Einblick in das riesige Ausmaß dieses blutroten Fleckes in unserer Geschichte geben. Aber was nutzen Zahlen und Fakten, wenn sie nicht durchdringen? Was nutzen Belehrungen und Ermahnungen, wenn gar kein Anreiz zum Verbrechen vorhanden ist? Natürlich möchte ich nicht, dass die Geschichte sich wiederholt. Dafür braucht man mir nicht hundertmal an den Kopf zu schmeißen, dass sie sich nicht wiederholen darf. Gerade diese ständigen Wiederholungen haben mich abstumpfen lassen.
Mehr als bloß Zahlen und Ermahnungen …
Und nun war da eine Geschichte, die mir einen tiefen Einblick gab, ohne mich zu belehren. Eine Geschichte, die mich bewegt hat und die hängen geblieben ist. Und es war nur eine von vielen. In der Schule gab es immerhin auch Schindlers Liste – das ist auch hängen geblieben, neben dieser unglaublichen Zahl, die ständig in der Luft schwebt: sechs Millionen. Doch diese Zahl ist letztendlich gar nicht so bedeutend, denn sie zeigt nicht mal im Ansatz den riesigen Schrecken, der sich dahinter verbirgt. Es gibt viele Gewalttaten und Kriege in unserer Welt, es gibt Folter, Mord, Genozid. Die Zahlen sind endlos. Gut, jeweils für sich genommen wirken sie womöglich geradezu winzig gegen diese eine Zahl – aber zusammengenommen sind es so viele mehr als sechs Millionen.
Es ist nicht diese eine Zahl, die so schrecklich ist. Es ist das Wie dahinter. Wie konnte das passieren? Wie konnten Menschen so weit gehen? Wie konnten Menschen sich davon mitreißen lassen? Wie konnten Menschen die Augen vor dem Offensichtlichen verschließen? Wie konnten sie zulassen, dass es immer größer wird?
Das Schlimme an der ganzen Geschichte ist, dass der Grund dafür in jedem von uns schlummert. Weil Menschen diese düstere Seite in sich tragen.
Keine Monster – sondern Menschen wie du und ich
Die NS-Verbrechen sind keine Taten von Monstern. Sicher, es gab Täter unter den Nazis, die Monster waren, vorher schon. Doch es gab vor allem jene, die erst im Laufe der Ereignisse dazu geworden sind. Menschen wie du und ich waren plötzlich an Massen-Ermordungen beteiligt, ohne sich wirklich bewusst zu werden, wie und warum sie an diesen Punkt gelangt sind. Andere haben gesehen, was passiert, fühlten sich jedoch machtlos und hatten Angst, etwas zu unternehmen. Wiederum andere haben etwas getan – zum Glück. Doch es hat nicht gereicht, um den Schrecken rechtzeitig aufzuhalten.
Das Grausame ist: Die Nazis haben den Hass nicht erfunden – sie haben ihn bloß genutzt. Eine Gruppe von machthungrigen Menschen hat mit einfachen Parolen den Hass der Bevölkerung kanalisiert, ihn vereinigt und dann ist er wie eine dunkle Wolke über das ganze Land gezogen. Er hat Herzen im Sturm erobert und sie in zerstörerische Dunkelheit getaucht. Er hat das Böse in ihnen entblößt und freigesetzt. Die dadurch entfesselte Kraft war viele Jahre lang nicht aufzuhalten. Zu viele haben sich mitreißen lassen. Zu viele haben sich nicht dagegengestellt. Es gab auch Helden in dieser Zeit – doch es waren zu wenige. Die dunkle Seite hat die Oberhand erhalten und ist gnadenloser Wut über den Kontinent gefegt. Ein Strudel aus selbstzerstörerischen Kräften hat die Menschheit ergriffen. Weil immer wieder der Irrglaube herrscht, dass eigene Stärke nur dann besteht, wenn wir sie nutzen, um andere damit zu zerstören.
Innerhalb dieses alles erschütternden Impulses ist eine schreckliche Tötungsmaschinerie entstanden. Die Nazis haben mit einer solch grauenerregenden Präzision getötet, gefoltert und jeden Widerstand im Keim erstickt, dass die kleinsten Einblicke reichen, um einem Gänsehaut über den Körper zu jagen und Tränen in die Augen zu treiben. Was da passiert ist, ist kaum zu beschreiben. Und da sollen ein paar Daten, Zahlen und Ermahnungen dafür sorgen, dass wir für die Zukunft gewappnet sind?
Geschichte durch Geschichten
Es sind erst die Geschichten gewesen, die mir wirklich gezeigt haben, wie wichtig das alles ist. Die mich erreicht haben. Die mir so viel mehr erzählt haben als bloße Fakten. Die mich sensibilisiert haben.
Ich muss nicht dabei gewesen sein, um Angst zu haben. Ich muss nicht dabei gewesen sein, um zu fühlen, dass hier das Düsterste im Menschen an die Oberfläche gedrungen ist. Und doch war ich irgendwie dabei. In einzelnen Momenten der Geschichte. An der Seite von Einzelschicksalen. Ich habe gelitten. Und ich habe gekämpft. Ich habe gefühlt, wie es ist, dagegen anzukämpfen. Ich habe den Mut gespürt.
Gerade jetzt, wo allmählich die Zeitzeugen fehlen, ist es wichtig, dass diese Geschichten auch weiterhin erzählt werden. Über Filme, Bücher, Hörspiele – und auch über Menschen wie mich, die immer wieder auf Bühnen stehen. Denn Geschichte funktioniert am besten über Geschichten.
Inzwischen weiß ich, warum wir damals in der Schule so viel darüber gesprochen haben. Inzwischen weiß ich, dass es gut war. Nur vielleicht nicht immer auf die beste Weise. Und heute bin ich in einer Position, in der ich es besser machen kann.
Damals hatte ich das Gefühl, ich müsse mich schämen für das, was in Deutschland geschehen ist. Dabei war das nie Sinn und Zweck. Es ist wichtig, dass wir uns wieder und wieder bewusst machen, was passiert ist – aber nicht in einem Gefühl von Schuld, sondern in einem Gefühl von Verantwortung. Das ist nicht nur in Deutschland wichtig, sondern überall. Das, was einst hier geschehen ist, kann an jedem Ort dieser Welt wieder passieren. Und es liegt an uns, dass wir das nicht zulassen. An jedem Einzelnen von uns.
Millionen von Menschen sind stellvertretend für uns durch die Hölle gegangen – weil sie Juden oder weil sie schwul waren, weil sie schwach waren und manchmal auch einfach weil sie den Mut hatten, aufzustehen. Dann können wir doch wenigstens den Mut aufbringen, uns diesem Kapitel der Geschichte auch weiterhin zu stellen. Und was kostet uns das schon? Ein paar Minuten des Nachdenkens und den Willen, es besser zu machen. Was ist das schon gegen die Gefahr, dass sich die Geschichte tatsächlich wiederholt …?